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  • Die Wiederentdeckung des Raumes (Heuner)
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Quelle: Ulf Heuner (Hg.)(2006): Klassische Texte zum Raum. Parodos, Berlin. Seite 7-8.

Das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert der Zeitphilosophie. Bereits 1963 stellte Otto Friedrich Bollnow in seinem Buch Mensch und Raum fest: "Das Problem der räumlichen Verfassung des menschlichen Daseins [...] hat demgegenüber ganz im Hintergrund gestanden". 1 Auch nach Bollnows Buch hat sich an diesem Zustand der Raumvergesessenheit lange nichts grundlegend geändert. Der Berliner Philosoph Michael Theunissen schreibt 1991 in seinem Buch Negative Theologie der Zeit: "Daß erst das Fressen kommt, dann die Moral, mag man bestreiten. Auf jeden Fall kommt erst die Zeit und dann das, was wir mit ihr machen." 2 Man mag einerseits bestreiten, ob dieser existentialontologische Einspruch gegen das Brechtsche Diktum sinnvoll ist, denn wer nichts zum Fressen hat, dem bleibt nicht mehr viel Zeit, aus der er etwas machen kann. Andererseits könnte man genauso sagen: Auf jeden Fall kommt erst der Raum und dann das, was wir mit ihm machen. Man könnte sogar behaupten, dass vielmehr der Raum für uns, für unser Denken, Vorstellen und Erleben, das Primäre sei. Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, dass wir uns die Zeit meist räumlich vorstellen, z.B. als lineare oder zirkuläre Zeit. Babys und Kleinkinder erschließen sich die Welt zunächst vor allem räumlich. Lange bevor sie "gestern" oder "gleich" (im zeitlichen Sinne) verstehen und selbst aussprechen, sagen sie: "Da! Auto!" oder "Mama weg!" Und es hilft dann nicht viel, wenn man ihnen versichert, dass Mama gleich wiederkommt, sondern es ist erst wieder gut, wenn sie wieder da ist.
Nun sollen Raum und Zeit hier keineswegs gegeneineinander ausgespielt werden. Raum und Zeit sind wohl untrennbar miteinander verklammert. Wenn ich behauptet habe, dass sich Babys die Welt zunächst räumlich erschließen, habe ich ja paradoxerweise einen zeitlichen Vorrang des Raumes gegenüber der Zeit festgestellt. Jede räumliche Erfahrung ist zugleich eine zeitliche Erfahrung. Und jede zeitliche Erfahrung ist zugleich eine räumliche, allein schon deshalb, weil wir als körperliche, materielle Wesen immer auch räumliche Wesen sind.
Diesen Umstand scheint selbst Bollnow zu vernachläassigen, wenn er eine Erklärung für den Vorrang der Zeit in der Philosophie des 20. Jahrhunderts versucht.: "Gegenüber der Zeit, die den Menschen in seinem innersten Zentrum betrifft, schien der Raum philosophisch weniger fruchtbar, weil er nur der äußeren Lebensumgebung des Menschen anzugehören schien. " 3 Die Anschauung, dass nur die Zeit, aber nicht der Raum den Menschen in seinem innersten Zentrum betrifft, verdankt sich wohl der abendländisch-christlichen Tradition, die als das eigentliche Zentrum des Menschen die unkörperliche und somit nicht-räumliche Seele bestimmte. Für diese war das eigentliche Problem offensichtlich ein zeitliches, nämlich wie, da die irdische Zeit des räumlichen Körpers irgendwann an ein Ende gelangt, diese zu überdauern bzw. überwinden sei im Hinblick auf Ewigkeit. 4 Ohne einen neuro-biologischen Fundamentalismus das Wort zu reden, muss jedoch selbst Bollnow gegenüber - der sich in seinem Buch in der Tat vor allem der äußereren Lebnesumgebung des Menschen widmet - reklamiert werden, dass auch das Innere des Menschen räumlich konstituiert ist.

In den letzten Jahren ist der Raum jedoch zunehmend ins Blickfeld der philosophischen und kulturwissenschaftlichen Disziplinen geraten. Theorie, die vor allem mit räumlichen Kategorien arbeiten, wie z.B. Giorgio Agambens Überlegungen zum Lager, werden lebhaft diskutiert. Wahrscheinlich ist es müßig, darüber nachzudenken, wie es zu dieser Renaissance der Raumtheorie gekommen ist. Es ist jedoch unabweisbar, dass der Raum im globalen Maßstab zur zentralen gesellschaftlichen Kategorie geworden ist: der freie, raumüberwindende Waren- und Reseverkehr einerseits und die damit kollidierende räumliche Begrenzung durch Nationalstaaten andererseits; die elektronische Übermittlung von Nachrichten und Informationen in Lichtgescshwindigkeit einerseits und die räumliche Bescrhänktheit und raumzeitliche Trägheit des menschlichen Körpers andererseits. Welches Leben man führen kann, hängt nach wie vor von den Orten ab, an denen man aufwaächst und lebst, und den Räumen, zu denen man Zugang hat bzw. die einem zugewiesen werden. Wer keinen Raum zur Entfaltung hat, der kann auch nicht viel aus seiner Zeit machen.

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