2.2 Topisches Raumverständnis: Der Raum als feldhafte OrdnungNeben einem relationalen Raumverständnis, wie es für die westliche Moderne kennzeichnend ist, soll auch ein weiteres Raumverständnis mit Blick nach Japan aufgezeigt werden, das im Folgenden als topisches Raumverständnis bezeichnet und als Feld ausgelegt wird. Ein topischen Sozialsystem-Modell beruht auf einem sozial erlebbaren Raum, welcher als soziales Feld bzw. Atmosphäre erfahrbar wird. Im Unterschied zum rein relationalen Raumverständnis wird der Raum nicht primär als ein Relationsgefüge verstanden, sondern vor allem als ein durch die Raumpunkte aufgespanntes Feld. Versucht man die Verbindung der Raumpunkte dennoch über Relationen abzubilden, dann erhält man „topische Relationen", die im Unterschied zur direkten gerade Verbindung zweier Raumpunkte „über das Feld laufen" und daher als zwei sich schneidende Geraden visualisiert werden können. Die Feld-Metapher des Raumes soll verdeutlichen, dass die Raumpunkte selbst vom Raum durchdrungen werden können, d.h. das Verbindende zugleich das Durchdringende ist. Deshalb liegt auch die Schwingungs- und Resonanz-Metapher nahe, denn die Vorstellung, dass Schwingungen Raumpunkte durchdringen, welche damit in Resonanz geraten, ist physikalisch greifbar. Ein derart topisches Raumverständnis liegt nahe, wenn man die mit dem Begriff „topisches Sozialsystem" beschriebenen Phänomene der japanischen Sozio-Kultur philosophisch reflektiert. Doch umso erstaunlicher ist es, wenn sich auch in der westlichen Tradition Stimmen finden lassen, die ein ähnliches Raumverständnis erkennen lassen.unmigrated-wiki-markup Gosztonyi fasst nach seiner über tausendseitigen philosophischen Untersuchung über den Raum seine Position gerade in Absetzung zu zahlreichen klassischen Positionen wie folgt zusammen: „Raum ist ‚reine Konduktivität'."\[771\] „Er ist - auch methodisch - von der ‚Schwingung' nicht ‚abtrennbar', das heißt aber, er ist ‚Schwingung'."\[772\]Mit der Schwingungsmetapher versucht auch er deutlich zu machen, dass der Raum zugleich den Menschen durchdringen kann: „... der Raum ... wirkt nämlich in ihm - und nicht etwa ‚um' ihn - und zwar als Spannung, der der Mensch ununterbrochen ausgesetzt ist."\[773\]Fernab jeden Japanbezuges knüpft Gosztonyi gerade in diesem Ausgesetzt-Sein für das Durchdringende an einen explizit topischen Gedanken an, wie er sich z.B. bei Watsuji finden lässt, der topische Elemente als „draußen Seiende"\[774\], „Hinausgetretene"\[775\], „Hinausgestellte"\[776\]versteht, die vom Klima durchdrungen werden. Damit ist deutlich, dass das Raumerlebnis nicht ohne Risiko des Erleidens einer Spannung erfahren werden kann: „Das Raumerlebnis ist ein Getragensein und ein Erfahren - oder genauer: ein Erleiden - einer Spannung ..."\[777\]Mit dieser Nähe von Gosztonyi zu Watsuji soll nur ein Beispiel genannt sein, wie sehr ein topisches Raumverständnis aus beiderseitigem Bemühen heraus entwickelt werden kann. Sucht man in der westlichen Soziologie nach Anschlussmöglichkeiten für ein topisches Raumverständnis, dann darf neben dem bereits genannten Kurt Lewin und seinem Schüler Junius Brown sicher auch Pierre Bourdieu nicht fehlen, der mit der Berufung auf den Feldbegriff eine radikale Wendung in der Sozialwissenschaft fordert: unmigrated-wiki-markup„Das Denken in Feldbegriffen erfordert eine Umkehrung der gesamten Alltagssicht von sozialer Welt, die sich ausschließlich an sichtbaren Dingen festmacht ... In der Tat: Wie die Newtonsche Gravitationstheorie nur im Bruch mit dem Cartesianischen Realismus, der keinen anderen Modus physischer Aktionen als den Stoß, den direkten Kontakt, anerkannte, zu entwickeln war, so setzt auch der Feld-Begriff einen Bruch mit der realistischen Vorstellung voraus, die den Effekt des Milieus auf den der direkten, in einer Interaktion sich vollziehenden Handlung reduziert."\[778\] unmigrated-wiki-markup
Gerade weil sich für Bourdieu das Feld nicht auf die darin sich vollziehenden Interaktionen reduzieren lässt, fordert er, das Feld als eigene Wirkungsgröße zu beachten und in den „Mittelpunkt der Forschungsoperationen"\[779\]zu stellen. Mit dieser Forderung reiht sich Bourdieu ein in das soziologische Bemühen um die Weiterentwicklung eines topischen Raumverständnisses. Mit den Beispielen von Gosztonyi und Bourdieu sollte nur auszugsweise angedeutet werden, dass es auch in der westlichen Philosophie und Soziologie - wenn auch aus unterschiedlichsten Motiven - Annäherungen an ein topisches Raumverständnis gibt, und somit das Bemühen um ein topisches Raum- und Systemverständnis nicht ausschließlich nur Japaninteressierten vorbehalten bleiben muss. So lässt sich mit Fug und Recht behaupten, dass es auch in der westlichen Welt vielversprechende Ansätze gab und gibt, welche die Grenzen der bisherigen Raummodelle erkannt haben und nach neuen Wegen in Richtung eines topischen Raumverständnisses suchen. Vor diesem Hintergrund könnte auch die Diskussion um ein topisches Systemmodell eine integrative Wirkung haben und bestehende Kräfte bündeln. Doch bei aller Vereinnahmung westlicher Ansätze sollte man sich im Klaren sein, dass die genannten westlichen Quellen zum topischen Raumverständnis doch eher eine Ausnahme als die Regel darstellen. So ist in den vorherrschenden westlichen Modellen trotz allem Bemühen um ein angemessenes Raumverständnis die Dominanz zeitlicher Kategorien immer noch unverkennbar. Bei eher schematisierender Wahrnehmung kann man daher bisweilen zurecht den Eindruck erhalten, dass der westlichen Fokussierung auf die Zeit die japanische Raumorientierung gegenübersteht: unmigrated-wiki-markup„If Westerners express the world in the form of time, the Japanese tendency toward space is the antithesis of these European concepts. Schematically speaking, it is a way of plotting perception along the axis of 'being and space' instead of 'being and time'."\[780\]
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